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«Carmen» feierte Premiere: Eine unbezähmbare und unabhängige Frau betört in Selzach nicht nur die Männer
Am Freitag feierte «Carmen» im Passionsspielhaus Selzach Premiere. Unsere Kritikerin war dabei. Sie berichtet von Opulenz, musikalisch Hochstehendem und ist überzeugt: Nun ist Selzach bei der Grand Opéra angekommen.
Die «Carmen»-Premiere der Sommeroper Selzach wurde mit stehenden Ovationen gefeiert. Sie hat mit dem Opernschlager den Publikumsnerv getroffen und bringt im 35. Jahr des Bestehens einen Kassenschlager und die bis anhin künstlerisch hochstehendste Produktion auf die Bühne. Gelungen ist dies dank des musikalischen Leiters Kaspar Zehnder und der Regie von Maria Riccarda Wesseling.
Hauptattraktion ist nach wie vor die Bühnenausstattung von Oskar Fluri, deren Reiz die Opulenz der szenischen Räume ausmacht: Der Dorfplatz mit dem orientalischen Brunnen, die mächtige Eingangspforte der im maurischen Stil gebauten Zigarettenfabrik, die Schenke von Lillas Pastia und die Treppenelemente, die den Einstieg zur Schmugglerhöhle in eine Stierkampfarena verwandeln. Angereichert mit spanischem Kolorit, findet sich der Zuschauer mitten in der Dorfgemeinschaft.
Maria Riccarda Wesseling vermeidet modernes Regietheater, lässt Kinder ihren Spielen und Erwachsene ihren Alltagsaufgaben nachgehen, integriert sie dramaturgisch geschickt in die Handlung. Dabei lässt sie keine Stereotype zu, sondern formt Charaktere.
Eine Inszenierung für das lokale Publikum
Die Inszenierung richtet sich an das Selzacher Zielpublikum, welches nicht zu den passionierten Opernbesuchern gehört, sondern das Angebot vor der Haustüre unvoreingenommen schätzt. Mit den Tanzszenen von LaDina Bucher und den Senioren – drei Männer an der linken und drei Frauen an der rechten Bühnenseite – ist ihr nicht nur ein origineller Einfall gelungen, sondern auch ein Hinweis auf die Sechzigerjahre, die sie als Handlungsebene wählte.
Hier entwickelt sich das Liebesdrama, welches mit dem Tod endet. In dessen Zentrum steht Carmen, eine unwiderstehliche Frau, die von den Männern begehrt wird. Nichts kann die Stolze zu etwas zwingen, wenn sie nicht will: Weder die Ordnungsmächte noch die Liebesschwüre des nicht mehr Geliebten. Durch ihr unabhängiges Wesen fordert sie die Machos heraus. Obschon sie frei und emanzipatorisch wirkt, schlummert eine fatalistische Schicksalsgläubigkeit in der Unbezähmbaren.
Nach drei Jahrzehnten bei der Grand Opéra angekommen
Seit 35 Jahren wird in Selzach Oper geboten. Was mit der Mozart-Trilogie und deutschen Spielopern begann, führte zu Donizetti, Rossini und Gounod. Die italienischen und französischen Opern wurden in deutscher Übersetzung und mit eigener Dialog-Fassung sowie regionalen Pointen aufgeführt.
Die erste «grosse» Oper, Wagners «Fliegender Holländer», musste nicht bearbeitet werden. Was sich mit ihm ankündigte, hat sich nun bestätigt: Die Sommeroper Selzach ist nach dreieinhalb Jahrzehnten mit «Carmen» bei der Grand Opéra angekommen, stellt das Werk in der Original-Fassung auf die Bühne, es wird nur französisch gesprochen und gesungen – ein Novum.
Einige Akteure der ersten Stunde sind noch dabei: Ausstatter Oskar Fluri hat alle Bühnenbilder und Kostüme entworfen. Seit Beginn an seiner Seite Allrounderin Pia Bürki, die seit 2010 mit René Gehri die Produktionsleitung teilt. Auch viele Helferinnen (Barbara Fluri, Realisation Kostüme) und Helfer engagieren sich seit den Gründerjahren.
Nach René Kunz (1989–2005), Bruno Späti, Bruno Leuschner, Constantin Trinks und Ivan Wassilevski leitet nun mit Kaspar Zehnder erst der fünfte Dirigent das Orchester. Hansjörg Hack (1989–2003), Thomas Dietrich (2005–2016, heute Künstlerische Betriebsleitung, ebenfalls seit dem Start dabei), Dieter Kaegi (2018) und Olivier Tambosi (2022) führten Regie, und mit Maria Riccarda Wesseling inszenierte heuer erstmals eine Frau.
Aufgetreten sind mehrheitlich Sängerinnen und Sänger aus der Region und aus der Schweiz. International Furore machten Juliane Banse, Sue Patchell, Bernard Richter, Daniel Jenz und Jordan Shanahan. Die Carmen-Produktion weckt die Erwartung, dass sich die Sommeroper auf diesem künstlerischen Niveau halten und weiterentwickeln wird. (srb)
Deborah Saffery singt die Femme fatale mit wendigem Mezzo, jedoch ohne erotisch-sinnliche Ausstrahlung. Die noch junge Sängerin wird sich die Carmen-Partie mit der Zeit ganz aneignen, Stimme und Aussehen prädestinieren sie dafür. Marion Grange begeistert als Micaëla mit schönem Sopran und der Fähigkeit, lange Bögen zu spannen und ein perfektes Legato durchzuhalten. James Kryshak wandelt sich vom Soldaten zum Schmuggler und besitzergreifend Liebenden, vom Muttersöhnchen zum Mörder aus Leidenschaft. Er weiss seine stimmlichen Mittel gut einzuteilen und singt eine lyrische Blumenarie.
Marcel Brunner macht in der heiklen Partie des Escamillo «bella figura» und Jasper Leever überzeugt als schneidiger Zuniga. Mit «Mercedes» Astrid-Frédérique Pfarrer, «Frasquita» Stefanie Frei und einer melancholischen «Carmen» Deborah Saffery gelingt das Karten-Terzett zum musikalischen Herzstück der Aufführung. Untadelig auch der Chor und die Comprimari Konstantin Nazlamov, Iyad Dwaier, Wolfgang Resch und Eva Herger.
Einen Hörgenuss bietet das Orchester der Sommeroper. Knapp, gefühlsstark und ohne Sentimentalität charakterisiert Bizets Musik die Protagonisten. Kaspar Zehnder spornt die Musiker zu Höchstleistungen an, schafft Spannungsmomente von grosser Intensität. Zehnder präsentiert die Schönheiten von Bizets Melos sorgfältig ausmusiziert: transparent, farbig, elektrisierend und klangschön. Bizets «Carmen» betört im Passionsspielhaus nicht nur die Männer, sondern das ganze Publikum.
© Grenchner Tagblatt, 05.08.2024 von Silvia Rietz.